Aus Spiegel-Online
Deutscher Verkehrswahn
Meine Stadt, das Schlachtfeld
Eine Kolumne von Georg Diez
Kaum kommt der Frühling, dröhnt es in deutschen Städten wie im Krieg: Männer fahren Maschinen, die entfernt an Motorräder erinnern, in Wahrheit aber Geschosse sind. Warum dulden die Behörden den Gefechtslärm - und warum gibt es jetzt sogar Tempo-10-Zonen? Die Antwort: Ideologie.
Ich merke, dass es Frühling wird, wenn die Bomber wieder tief über die Stadt fliegen und die Fensterscheiben klirren. Man hört sie schon von weitem, wenn sie zum Sinkflug ansetzen, es ist ein hohes, eher sirrendes Geräusch, das sie machen, manchmal begleitet von kleinen Explosionen, wenn ihre Motoren wie wilde Pferde zucken, brrr, brrr, hooo, tack, tack, krrrrrrrr, denn in Wirklichkeit sind es ja gar keine Bomber, die da ansausen, es sind aber auch keine Pferde, es ist etwas dazwischen: Menschen, die mit ihren Maschinen verwachsen sind.
Früher nannte man das Gerät, auf dem sie sitzen, Motorrad, aber das ist nicht mehr das richtige Wort für diese Art der motorisierten urbanen Kriegskultur: Sie scheinen zu fliegen, sie sind wie Geschosse, sie sind auf eine infernalische Art und Weise laut, und ich bin jedes Mal neu erstaunt, wie in einem Land und in einer Zeit, in der so vieles einfach mal verboten wird, vom Rauchen bis zu Parteien, gerade dieser Einbruch des Martialischen in den Alltag in Ordnung ist.
Wann genau diese städtische Aufrüstung begann, weiß ich nicht mehr, es muss in der Zeit des Irak-Kriegs passiert sein, so um das Jahr 2003 herum. Seither gibt es diese ästhetisch durchaus beeindruckenden Blitze, auf denen Männer durch die Stadt fliegen. Meistens sitzen sie allein auf ihrem Geschoss, weil es eh nicht darum geht, von A nach B zu kommen - es geht um die reine Geschwindigkeit und den großen Lärm.
"Zone 10" heißt der neueste Scherz
Eine Horde von Hells Angels auf ihren Harley Davidsons jedenfalls wirkt neben diesen Dingern wie ein Kirchentagsausflug. Und eine BMW von 1980 klingt wie ein Rasenmäher neben einem Düsenjet. An manchen lauen Sommerabenden erinnert die Stimmung auf der großen, geraden Straße, an der ich wohne, an einen Flugzeugträger im Arabischen Golf mitten im Schlachtgetümmel.
Ich beschwere mich ja nicht, im Gegenteil - es ist mal wieder wunderbar, in einer Stadt wie Berlin zu leben, die einem die Widersprüche unserer Zeit so bequem serviert: Denn während eben rund um den Alexanderplatz diese Art von Nürburgringisierung der Großstadt stattfindet, versuchen sie ein paar hundert Meter weiter, die Stadt in ein Dorf zu verwandeln, was nicht ganz so laut ist, aber mindestens so lächerlich.
"Zone 10", so heißt der neueste Scherz, den sich die Stadtverwaltung ausgedacht hat - aber haben Sie schon mal versucht, zehn Stundenkilometer zu fahren? Das ist sowohl technisch wie psychologisch unmöglich. Das ist wirklich langsamer, als würde man das Auto schieben. Und so gleitet man jetzt im Herzen der Hauptstadt von einer Spielstraße in eine Zone 30 in eine Zone 10 und wieder zurück in eine Spielstraße, es ist ein Schilder- und Konzeptchaos, das einen in semantischer Ratlosigkeit zurücklässt.
Polizisten, die Fußgänger kontrollieren, ob sie zu schnell laufen
Vielleicht ist auch genau das das Ziel. Als sie jedenfalls in dieser Woche damit anfingen, in riesigen Kreisen die Zahl Zehn auf die Straßen zu malen, wie geheime Botschaften für Außerirdische, und sich auch noch vermalten und statt: 10 dann 01 schrieben - da schien es auf einmal, als sei das alles eine Kunstaktion, der Einbruch des Absurden in den Alltag, ein Beitrag zur Berlin-Biennale vielleicht oder zur Documenta.
Aber dann hätte die Polizei wahrscheinlich dort keine Blitzer aufgestellt.
Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Das wandernde Stadtlabor von BMW und Guggenheim, das eigentlich in Kreuzberg aufgestellt werden sollte, so wurde diese Woche gemeldet, wollen sie dort nicht haben. Sie haben Angst vor Gentrifizierung, so heißt das ja, sie haben Angst vor Veränderung, sie haben Angst vor der Stadt selbst, weil die vor allem genau das ist: Veränderung und Widersprüche. Die Stadt ist eines der ideologischen Schlachtfelder unserer Zeit - der Kriegslärm vor meinem Fenster gehört dazu.
Es gibt ja tatsächlich einiges soziologisch zu lernen: Vor der Polizeistation etwa, die gegenüber meines Tennisplatzes ist, stehen im Sommer in langer, bunter Reihe 10, 20, 50 von diesen Rennmaschinen, die, so scheint es, auch bei Polizisten beliebt sind. Die verbringen ihre Tag dann damit, Fußgänger zu kontrollieren, ob sie zu schnell laufen.